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Die Barbarossastraße

Die Barbarossastraße ist eine kleine Autobahn für Spaziergänger, die das Bayrische Viertel mit dem Trendquartier Schöneberg verbindet. Die Platanen überragen die Traufhöhe um wenige Meter, und haben dem Krieg, der Reichspogromnacht und der aktuellen Corona-Spazierwut von oben herab zugeschaut. Im Sommer, läßt es sich denken, sei man in Südfrankreich und flaniere zum nächstgelegenenen Kleinstadtmarkt (hier: Winterfeldtplatz). Im Winter schmückt das Laub die platten Neubaufassaden der Nachkriegszeit nicht und der Schnee setzt sich bestenfalls an den Stämmen fest. Die Kunstinstallation, welche mit kindlichen (warum eigentlich?) Zeichnungen die schrecklichen Aspekte der in 1933 gefallenen Entscheidungen, an die Judenverfolgung im Quartier erinnert, kommen auch besser zur Geltung. „Juden dürfen keine Schwimmbäder besuchen“. Grauenvolle Banalität - Frau Arendt hat mit allen anderen jüdischen Intellektuellen, die hier wohnten, die Stadt verlassen. Das Bayrische Quartier im Exil: Einstein, Fromm, Benjamin, Planck, Kisch, das Wissen ist mit ihnen geflohen. Die Barbarossastraße erinnert sich mit den Bäumen zusammen.
Meine Uroma ist zum Glück vor dem Krieg aus Liebe zu einem Schweizer gegangen, meine Tochter hat das coole informelle Berlin verpasst und kam am Ende des zweiten Lockdowns hier zur Welt. Manchmal denke ich darüber nach, dass die alten Herren, die so höflich in den Cafés grüßen und sie beglücken, die gleichen sind, die Familie Wulpert (Namen geändert) aus meinem Haus haben zerren lassen.
So flaniert es sich also an trüben wie hellen Tagen, im Bayrischen Viertel, wie in einer Chanson von Comedian Harmonists (auch im Exil). Ich eile, renne, laufe, schiebe den Kinderwagen über diesen Bürgersteig durch die jeweilige Lebensphase und beobachte mich schmunzelnd, wenn ich mich an den jeweils letzten Gefühlsgeladenen Nachhauseweg erinnere. Nach und nach lädt sich die Straße mit Assoziationen auf, jetzt sind es gerade die neuen Mutterfreundinnen, die neue Verbindungen bieten.

Am Ende der Barbarossastraße tut sich ein kleines Plätzchen auf, weder Ort noch Weg, ganz aus Bürgersteig gemacht. Zugleich sieht man den runden Prager Platz im Augenwinkel und den sandigen Abenteuerboden der angrenzenden Spielplätze. Kinder und Mütter schmücken diese kleine, unförmige Fußgängerzone meist wie Menschenpunkte, mathematisch zerstreut auf den unterschiedlichen Stadtbelägen. Hier entsteht ein Gefühl der Ziellosigkeit, Aschaffenburger Straße scheint komisch schräg durch den Fußgängerbereich gelegt zu sein, die Barbarossa endet im nichts und geht dann im 45 Grad Winkel als Jenaer weiter.

Die prächtige, gradliegende Klein-Allee mündet also im Nichts, im Durcheinander, weder Straße noch Bürgersteig haben eine Richtung, die Gaslaternen liegen wie vom Praktikanten brav in den Stadtplan gesetzt, diagonal gerastert stehen sie unbeholfen auf dem jeweiligen Bodenbelag.
Die Wege durch nebelige Winterabende münden hier, die herumirrenden Väter der stillen Sonntage schwirren bleich durch das Kurzzeitgedächtnis. Schnell, schnell, fast zuhause, werfe ich einen schmunzelnden Blick auf den Erdgeschossbalkon, der sich als Kosmetiksalon unter der Inschrift „Farb- und Stilberatung, Nägel und Haare“ unter einigen Lichterketten präsentiert. Immer wieder überkommt mich unerwartet die wohlige Unsicherheit, wo ich mich gleichzeitig aller Erinnerungen und keiner besinnen kann, Guillaume ́s französisches Barbarossá, den letzten Kuss des neuen Verehrers, ich pendele zwischen Vergangenheit und Ungewiß. Es ist die frohe Welt ohne Entscheidungen, hier nimmt mein mich immer begleitender Kontrollzwang ganz ab, und ich schmelze in die gelblich beleuchtete Zwischenebene. Ohne Zeitlichkeit wird der kleine Platz zur Drehscheibe zwischen den geraden Wegen des Alltags, fort und zurück, und der Tiefe der Vergangenheit, die ohne Maßstab unerwartet, plötzlich, voller Freude auf einen wartet. Schwerelos läßt man sein Gewicht fallen und entkommt den präzise eingeübten Ereignissen der Geschichte, dem Bewusstsein - mein eigenes kleines Nahtoderlebnis, nach jedem Weg anders, heute zum Beispiel nach diesem stillen Sonntag voller Väter.


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